6.3. Vertikal oder Horizontal
4 years ago by Subliminal_Guy
Das Dilemma kann man vereinfacht so zusammenfassen: In jeder Organisation entstehen früher oder später Gruppen von Menschen, die über mehr personelle, informationelle, zeitliche, finanzielle, infrastrukturelle oder strategische Ressourcen verfügen als andere Mitglieder dieser Organisation. Diese zunehmende Machtkonzentration steht dann oft den eigenen demokratischen oder basisdemokratischen Idealen im Weg. Aber ist sie deswegen unter allen Umständen zu vermeiden?
In den letzten drei Jahrzehnten hat die politische Linke erbittert über das Für und Wider hierarchisch strukturierter Parteien gegenüber Strukturen mit angeblich flachen Hierarchien gestritten. Die Anti-Globalisierungsbewegung, verschiedene Occupy-Bewegungen, die Mobilisierungskampagnen von Sanders und Corbyn, die linke Sammlungsbewegung Aufstehen und nicht zuletzt DiEM25 litten bzw. leiden alle unter dem Druck die richtige Balance zwischen horizontalen und vertikalen Strukturen zu finden.
Wie ich im Kapitel Politik als Plattform bereits geschrieben habe, ist die Abschaffung oder Verhinderung eines organisatorischen Mittelbaus oder unterschiedlicher Fraktionen innerhalb der Organisation kein glaubhaftes Mittel um Bewegungen demokratischer zu machen.
Das ständige Ringen um Repräsentanz, Transparenz und interner demokratischer Struktur – mit denen die einfachen Mitglieder dem Koordinierungskollektiv von DiEM25 so auf die Nerven gingen – ist ein integraler Bestandteil von lebendiger Demokratie. Wenn ein Yanis Varoufakis diesen Prozess mit dem Verweis kurzschließen will die Wähler*innen würden internen Streit verabscheuen und dieser sei ein Relikt traditioneller, bürgerlicher Parteien, ist damit nichts gewonnen. [1]
Auf der anderen Seite kann man den „Horizontalismus“ - nach Rodrigo Nunes die Tendenz jede Struktur außerhalb der Generalversammlung als Verrat an der Demokratie zu betrachten - ebenfalls als gescheitert betrachten. In den Worten von Nunes:
"Sie (die globalisierungskritischen Bewegungen, Anm. d. Verf.) hatten eine Reihe von Formen, die sie ihrer Politik unabhängig vom Inhalt geben wollten, und diesen Formen treu zu bleiben, war wichtiger als irgendetwas zu erreichen."
Das Ziel von Rodrigo Nunes‘ Buch ist es nun die Menschen von der Fixierung auf die perfekte Struktur zu befreien, damit sie ihre eigenen Erfahrungen machen können, anstatt unwissentlich die Fehler anderer zu wiederholen oder sich selbst davon abzuhalten, es überhaupt zu versuchen. Die Auseinandersetzungen zwischen Vertikalist*innen und Horizontalist*innen sind Nunes zufolge von einem falschen Dualismus gekennzeichnet.
Stattdessen schlägt er einen "diagonalen" Weg vor, bei dem die Verbindungen und Abhängigkeiten zwischen vertikalen und horizontalen Organisationspraktiken anerkannt werden und neue Möglichkeiten entstehen können.
In seinen Worten: Horizontalität ohne Horizontalismus und Avantgarde ohne Avantgardismus.
Nunes zufolge geht es den Verfechter*innen horizontaler Strukturen vor allem um Gegenseitigkeit, um die Vermeidung einseitiger Beziehungen, in denen eine Seite der anderen einfach vorschreiben kann, was sie zu tun hat. Das Problem dabei ist die Tendenz, die Gegenseitigkeit als das Ziel schlechthin zu betrachten. Als ein Ziel, das eine Bewegung immer auf Kosten aller anderen verfolgen sollte, auch auf die Gefahr hin sich davon lähmen zu lassen und sich selbst systematisch die Mittel zu verweigern, die erforderlich sind, um voranzukommen. Kurz: Die Organisation versagt sich selbst eine effektive Struktur, aus Angst, dem unmöglichen Ideal nicht zu entsprechen.
Ich muss hier kurz den Blick senken und zugeben, dass wir Basismitglieder in dieser Beziehung auch oft das Kind mit dem Bade ausgeschüttet haben. Wie in Kapitel 2.2 bereits geschildert, war die reine Existenz eines kollektiven Vorstands schon ein Dorn im Auge der Mitgliedschaft. Bevor wir auch nur ein Bankkonto eröffnet hatten, bestand schon der Vorwurf wir seien ein intransparentes Politbüro. Gleichzeitig betrachtete uns auch das Koordinierungskollektiv argwöhnisch und war bemüht unsere Kompetenzen und unseren Einfluss möglichst gering zu halten. Natürlich mit der Begründung, dass nur das Koordinierungskollektiv befugt war den wahrhaftigen Willen der Basismitglieder zu exekutieren. Noch heute macht mir diese paradoxe legitimatorische Konstruktion Kopfschmerzen, wenn sie mir in politischen (Kon)Texten begegnet.
Doch zurück zu Rodrigo Nunes. Ist er der Auffassung, dass wir Führungsfiguren ganz aus der Politik verbannen sollten? Nein, dies sei vermutlich sogar unmöglich, mindestens aber ein gutes Mittel um effektive Arbeit zu verhindern. In einer Situation, in der es einige Leute gibt, die mehr Erfahrung haben, oder die eine Idee haben, was getan werden kann, oder die die Dinge klarer sehen, sei es sogar sehr wünschenswert, dass sie vortreten und die Initiative ergreifen. Dies sei die Funktion einer Avantgarde. Nur dürfe diese Funktion nicht zu einer dauerhaften Position werden.
In der Geschichte der Linken gab eine ganze Geschichtsphilosophie, um zu rechtfertigen, dass eine bestimmte Gruppe Menschen notwendigerweise die Position der Avantgarde bekleiden müsse und dadurch berechtigt sei Macht auszuüben.
Von dieser dogmatischen Position müssen wir uns laut Nunes befreien und probate Mittel finden um Macht zu kontrollieren und zu begrenzen. Das heißt aber nicht, dass es keine strategischen Funktionen geben darf die temporär Entscheidungsstrukturen besetzen.
„Avantgarde ohne Avantgardismus“, heißt somit: "Führung ist notwendig, aber in möglichst breit verteilter Form und die Machtkonzentration muss in Schach gehalten werden".
"Horizontalität ohne Horizontalismus" bedeutet, "wir müssen Gegenseitigkeit anstreben, nicht indem wir alle Machtunterschiede nivellieren, sondern indem wir sie kontrollieren".
Mit anderen Worten: Da Führung eine Notwendigkeit und Gegenseitigkeit ein Ziel ist, können wir uns nicht für das eine oder das andere entscheiden, sondern müssen ein dynamisches Gleichgewicht zwischen beiden anstreben. Gegenseitigkeit – so führt Nunes weiter aus – ist schon alleine deswegen notwendig, da wir als politische Akteur*innen mit einer sich ständig verändernden, komplexen Realität konfrontiert sind. Es gibt keinen notwendig privilegierten Platz, keine endgültige Vogelperspektive von der aus die Realität sich modellieren und repräsentieren lässt.
„Um der Komplexität der Welt angemessen Rechnung zu tragen, müssen wir die Tatsache berücksichtigen, dass sie multiperspektivisch beobachtet wird.“Dies heißt nicht, dass alles relativ ist. Es soll uns vielmehr daran erinnern, dass auch die erfahrenste politische Führung blinde Flecken hat. Pluralismus und Demokratie sind deswegen nicht nur ethisch wünschenswert, sondern auch praktisch notwendig: Je komplexer und multiperspektivischer die Meinungsbildung ist, desto komplexer kann die Realität modelliert werden.
Und genau hier kommt die Theorie von politischen Ökosystemen ins Spiel. Wer sagt, dass Menschen nicht verschiedene Formen von politischer Aktivität ausüben können - Parteiarbeit, Bewegungsarbeit, kreative direkte Aktion, Organizing, Demonstration, Volksentscheid – ohne sich nur mit dieser einen Form zu identifizieren? Können wir anerkennen, dass viele mit unterschiedlichen Mitteln und in verschiedenen graduellen Abstufungen am selben Ziel arbeiten?
Rodrigo Nunes stellt klar, dass es nicht darum geht, dass alle Akteur*innen sich dem gleichen lauwarmen Mittelweg annähern. Vielmehr gehe es darum, geschickter zu entscheiden, wann man den politischen Druck erhöht und wann man loslässt, wann man auf seine Position drängt und wann man sich mit vorteilhaften Kompromissen zufriedengibt. In einer musikalischen Metapher: Mit einer ganzen Palette von klanglichen, rhythmischen und dynamischen Möglichkeiten zu spielen, anstatt immer dieselbe Note zu treffen.
Am Ende geht es Nunes darum zuzugeben, dass die progressive Linke kein Patentrezept und keinen historischen Präzedenzfall hat, wie sie ihre Ziele großflächig und in absehbarer Zeit erreichen kann. Klar sei, dass es keine Organisation, keine Partei, keine Bewegung gäbe die dies allein tun kann. Wir haben es also - so Nunes - mit einer gemeinsamen Anstrengung zu tun, bei der verschiedene Akteur*innen unterschiedliche Strategien verfolgen. Das Problem lautet demnach nicht "Welche Strategie ist die richtige?", sondern "Wie können wir die Akteur*innen dazu bringen, zusammenzuarbeiten?"
„Wir müssen das gesamte Ökosystem überwachen, über die beste Verteilung der Ressourcen nachdenken, Versorgungs- und Kommunikationslinien aufbauen und aufrechterhalten und Entscheidungen treffen, die es allen ermöglichen, Terrain zu gewinnen, auch wenn wir nicht die Anführer*innen sind.“Sind wir bereit in politischen Ökosystemen zu denken und zu handeln?
[1] Tatsächlich ist dies eine so dürftige Analyse, dass ich Schwierigkeiten habe zu glauben, dass Varoufakis dies aufrichtig denkt.
[2] Die Zitate und zentralen Themen des Buches stammen größtenteils aus dem folgenden Interview mit Rodrigo Nunes: https://projectpppr.org/platforms/neither-vertical-nor-horizontal-interview-with-rodrigo-nunes