6.1. Politik als Plattform
4 years ago by Subliminal_Guy
Paolo Gerbaudo hat in seinem fantastischen Buch The Digital Party - Political Organisation and Online Democracy eine prototypische Organisationsform des 21. Jahrhunderts analysiert, deren Manifestation in der realen Welt er u. a. im italienischen Five Star Movement, in der spanischen Partei/Bewegung Podemos, den diversen Piratenparteien und den Bewegungen um Jeremy Corbyn und Bernie Sanders entdeckt.
Als kleinsten gemeinsamen Nenner, dieser sonst aus recht unterschiedlichen Kontexten entstandenen Strukturen, identifiziert er ein Mißtrauen gegenüber althergebrachten Parteistrukturen - namentlich den lokalen, regionalen und nationalen Parteikadern - und dem bürokratischen Mittelbau den traditionellen Parteien haben. Diese Strukturen sind, spätestens nach 2011 mit den 15M-Protesten in Spanien und Occupy Wall Street in den USA, in den Verdacht geraten den Elitarismus und die Entfremdung der Parteien gegenüber den einfachen Bürger*innen zu befördern.
Als Alternative werden in den neuen politischen Bewegungen die dort entwickelten Konzepte von direkter Demokratie, einem direkten Mitspracherecht der "Graswurzeln" an politischen Entscheidungen und dem radikalen Horizontalismus (alles muss von allen besprochen und entschieden werden) praktiziert [1].
Als Lösung erscheint all den von Gerbaudo untersuchten politischen Initiativen die Abschaffung eben des klassischen Mittelbaus zugunsten einer Idee von Politik als Plattform ohne Vermittler (Intermediär) zwischen dem Spitzenpersonal (z. B. Emmanuel Macron, Luigi di Maio, Pablo Iglesias, Yanis Varoufakis) und der Basis. In der Theorie entscheidet dann die Parteibasis über die Ziele und Themen der Partei und das Führungspersonal exekutiert lediglich den Willen der Basis.
Was uns hier schon nachdenklich stimmen sollte ist die offensichtliche Analogie mit der "Plattformisierung" in anderen Lebensbereichen. Denken wir nur an die sogenannten Sozialen Medien oder das Vermieten von Ferienwohnungen, der Lieferung von Essen und Einkäufen und der Personenbeförderung per Smartphone-App.
Gibt es in all diesen Bereichen eine Beziehung auf Augenhöhe zwischen den Eigentümer*innen der Plattform und den Individuen die diese nutzen bzw. für diese arbeiten? Bestimmen gar die Nutzer*innen oder Arbeiter*innen die Konditionen der Plattformen? Ich beantworte diese Frage mit einem klaren Nein.
Paolo Gerbaudo hat für die Protagonisten von Plattform-Parteien die Begriffe Hyperleader und Superbase geschaffen, mit denen er erklären will, wie die Beziehung zwischen Basis und Führung funktioniert. An der Spitze solcher Politikplattformen stehen charismatische Personen die die Ziele der Plattform affektiv besetzen. Sie sind in der Regel medial gut sichtbar (wenn teilweise auch nur in der eigenen Medienblase) und stehen mit ihrer persönlichen Geschichte pars pro toto für das politische Narrativ. Die Basis wird in vielen Fällen (so auch bei DiEM25) als Netzwerk aus lokalen Gruppen gedacht, die Aktionen im Namen der gemeinsamen Sache ausführen. Warum ist das problematisch?
Wie man am Beispiel von Podemos sehen kann, war die Idee von lokalen, losen Gruppen (Circulos) nur auf den ersten Blick eine gute demokratische Struktur. Nominell konnten Mitglieder auf der digitalen Plattform Plaza Podemos die Iniciativas Ciudadanas de Podemos - also Bürgerinitiativen bzw. Politikvorschläge - einreichen. Diese Vorschläge brauchten dann ein Minimum von 0,2% Unterstützer*innen (im April 2015 ca. 700 Stimmen) um in das Partizipationsportal vorzudringen. Dies erscheint auf den ersten Blick wenig, aber in der Tat schafften es nur sehr wenige Vorschläge bis dorthin. Gründe dafür waren u.a. das verbreitete Gefühl unter den Mitgliedern, dass die Vorschläge auf dem Plaza Podemos nur sehr wenig Relevanz in der Ausrichtung der Partei hatten.
Wenn die Initiative dann im zweiten Schritt im Partizipationsportal 2% der Stimmen (im April 2015 also ca. 7000 Stimmen) bekam, wurden die Informationen über diese Initiative (einmal im Monat) als e-Mail an alle Mitglieder verschickt. Nach drei Monaten lief die Initiative automatisch ab. In diesen drei Monaten (von denen im schlimmsten Fall schon einer durch die Verzögerung der monatlichen e-Mail abgelaufen war) mussten die Initiatoren nun 10% der Stimmen sammeln. Natürlich durfte die Parteiführung in diesem Stadium einen Gegenvorschlag einreichen, falls ihnen der Vorschlag mißfiel. Tatsächlich ist es in Spanien einfacher eine Bürgerinitiative in den Kongress zu bekommen, denn hierzu sind nur 1,5% der Wählerstimmen nötig.
Wie wir am Beispiel von Podemos sehen: die atomisierte Basis - ihres Mittelbaus aus überregionalen Strukturen und Kommunikationsmitteln beraubt - ist erschütternd machtlos gegenüber dem*der Hyperleader*in und seiner*ihrer Entourage.
In DiEM25 sieht die Lage noch bedeutend schlechter aus: Es gab zum Zeitpunkt meines Austritts schlicht gar keinen vorgesehenen Weg wie Mitgliederinitiativen garantiert ein All-Member Vote (wir erinnern uns: eine Abstimmung aller registrierten und halbwegs aktiven Mitglieder) initiieren konnten. Stattdessen können Varoufakis und sein innerer Kreis nach Gutdünken entscheiden welche Entscheidungen wichtig genug sind, um sie den Mitgliedern in einer Ja/Nein-Entscheidung vorzulegen. Man möchte die Basis ja nicht mit zu viel Politikgedöns überfordern.
Wir sehen, dass die Vorstellung einem Netzwerk aus Individuen zu mehr politischer Wirksamkeit zu verhelfen, indem man sie jeder intermediären Struktur beraubt, in Wirklichkeit oft zu einer Machtkonzentration an der Spitze der führt. Wir im Bundeskollektiv haben das Schicksal einer intermediären Struktur im Aufbau am eigenen Leibe zu spüren bekommen. Mehr als einmal wurde uns vorgeworfen gegen den Willen der Mitglieder zu handeln und einen 'power grab' zu versuchen. Föderale Strukturen sind in DiEM25 erklärtermaßen unerwünscht.
Der Argwohn gegenüber traditionellen politischen Organisationsstrukturen führt in vielen Fällen dazu, dass die politische (digitale) Plattform noch hinter bürgerliche Demokratiestandards zurückfällt.
"Letztendlich hängt die Frage vielleicht weniger davon ab, ob die Entscheidungsfindung für alle gleichberechtigt zugänglich gemacht wird, als vielmehr davon, ob sich im Laufe der Zeit eine Kultur des kollektiven Aufbaus entwickelt. Wenn dies der Fall ist, können die bestehenden Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, neue können auftauchen, und die Demokratisierung schreitet neben Reife, Engagement und Vertrauen voran. Wenn dies nicht der Fall ist, besteht die Tendenz, dass sich die aktiveren Teilnehmer entfremden und unzufrieden werden und die anderen eine zunehmend passive, konsumähnliche Haltung einnehmen und die Plattform weniger als politischen Raum denn als Dienstleister betrachten." [2]Ich möchte nicht verschweigen, dass DiEM25 in vielerlei Hinsicht komplexer strukturiert war als beispielsweise das italienische Five Star Movement. Es gab eine explizite (das DiEM25-Manifest) und viele implizite (linke Intellektuelle im Coordinating Collective und dem Beratungsgremium von DiEM25, die Bücher und Texte von Varoufakis, die thematische Ausrichtung der politischen Agenda) ideologische und thematische Vorgaben. Wir kannten und diskutierten auch die Umtriebe im Five Star Movement, das wir für eine inhaltsleere Populisten-Plattform hielten, und setzten uns kritisch mit den eher antieuropäischen Ideen von z. B. La France insoumise oder der Aufstehen-Bewegung auseinander.
DiEM25 versteht sich selber als linke Denkfabrik, als Aktivist*innen-Netzwerk, als NGO, Bildungswerk und Parteienbündnis - die Aufzählung ist nicht vollständig. Diese mangelnde Fokussierung sorgte für eine enorme Zerfaserung und Verzettelung der Mitgliedschaft und später für große Enttäuschung, als - je nach Gusto - einzelne Aspekte von DiEM25 vernachlässigt oder gar aufgegeben wurden.
Wir wir gesehen haben, hat das Modell „Politik als Plattform“ enorme Schwächen und kann - gerade wenn es als hippes und zeitgemäßes Tool für Politik im 21. Jahrhundert kritiklos abgefeiert wird - populistischen Führer-Basis-Konstellationen Vorschub leisten. Trotzdem lohnt es sich dieses Modell nochmal näher zu betrachten, da es für einen kurzen Moment - im Herbst 2019 - für die Klimabewegung Extinction Rebellion fantastisch funktioniert hat.
[1] Das diese verkürzte Analyse in dramatischer Weise das Kind mit dem Bade ausschüttet, werde ich später noch diskutieren.
[2] Rodrigo Nunes, „Neither Vertical nor Horizontal“, S. 208, https://www.versobooks.com/books/3810-neither-vertical-nor-horizontal