5.1. Onboarding mit Charme

4 years ago by Subliminal_Guy

Die Kernzelle einer Bewegung ist die Lokalgruppe oder wie es bei DiEM25 heißt: das spontane Kollektiv. Von hier aus muss das Wachstum der Bewegung gedacht werden, denn nur Aktivist*innen die einen - wie auch immer gearteten - Platz in der Struktur der Bewegung haben können sinnvoll in dieser wirken. Dies setzt natürlich voraus, dass die Mitglieder tatsächlich einen aktiven Part in der Bewegung spielen sollen und nicht nur als abstrakte Zahl zur Außendarstellung benötigt werden. Meine direkten Erfahrungen mit Lokalgruppen beschränkte sich im Wesentlichen auf das DSC Berlin, so dass ich mit meinen Beobachtungen dort beginnen möchte.
Viele der Mitglieder die sich in Berlin regelmäßig trafen waren politische Nerds, die auf DiEM25 aufmerksam geworden waren, weil sie die Ereignisse um die Griechenlandkrise verfolgt hatten und/oder eine der wenigen Publikationen von DiEM25 gelesen hatten. Die Meisten kannten also schon das halbe DiEM25-Narrativ, bevor sie sich das erste Mal im realen Leben als Gruppe trafen. Ich selber hatte monatelang den Prozess aus der Ferne verfolgt und die Entscheidung aktiv zu werden war einigermaßen zufällig.
Eine einheitliche, gezielte Strategie um neue Mitglieder zu gewinnen und sie in die Struktur einer lokalen Gruppe einzugliedern gab es im DSC Berlin nicht. Als ich beim deutschlandweiten Treffen in Frankfurt am Main war, suchte ich in der Gruppe unauffällig nach Menschen die mir sympathisch waren und einigermaßen offen wirkten. Manche der Teilnehmer*innen ließen mich nach einem kurzen Gespräch einfach stehen und suchten die Vertrautheit ihrer Gruppe. Ich fand aber nach einiger Zeit ein paar Leute, die Lust hatten sich mit mir zu befassen. Nun bin ich aber auch eine eher extrovertierte Person, die mehrfach zwischen Städten umgezogen ist und Erfahrung darin hat sich unbekannten Menschen zu nähern.
Für die Mehrzahl der Menschen ist der Besuch eines politischen Meetings eher eine unangenehme Erfahrung. Sie treffen auf eine Gruppe von Menschen, die schon länger miteinander arbeiten und die eine interne Kultur, eine politische Analyse und einen gemeinsamen Jargon entwickelt haben. Das kann für Newcomer*innen abschreckend wirken und tatsächlich besuchten viele nur einmal in ihrem Leben ein DSC-Meeting. Ein Zustand, der von den Kernmitgliedern bemerkt und beklagt wurde, der aber nicht so leicht zu ändern schien.
Jonathan Matthew Smucker, amerikanischer Organizer und Stratege für Grassroots-Bewegungen, warnt in seinem Buch Hegemony How-To davor neu geworbene oder noch zu werbende Mitglieder zu Meetings einzuladen. Das ist kontraintuitiv, denn ich selber habe es oft gemacht und mir die Personen auch gemerkt und im Meeting begrüßt. Das ist aber nicht genug. Nicht alle Menschen die sich einmal auf ein Meeting trauen fühlen sich dort auf Anhieb wohl. Die Kernmitglieder suchen den Kontakt in erster Linie zueinander, spielen ihre sozialen Anerkennungsspiele und oft bleibt keine Zeit für Newcomer, die mit ihren Fragen aufhalten, vor allem wenn dieses Ritual jeden Monat neu stattfindet.
Die Lösung liegt auf der Hand: Die erfahreneren Mitglieder aus dem Kern der Gruppe laden regelmäßig neue Mitglieder oder interessierte Menschen auf einen Kaffee ein und lernen sie in einem Zweiergespräch kennen. Woher kommen die Personen, was haben sie für einen Geschichte, was hat sie auf die Gruppe/Bewegung aufmerksam gemacht? Was haben sie für konkrete Anliegen? Das Kernmitglied kann dann auch ein wenig von sich selbst und der eigenen Gruppe erzählen. In diesem Zweiergespräch - in dem die Newcomer*innen 70-80% der Zeit zur Wort kommen sollten - bekommen erfahrene Organisator*innen schnell ein Gefühl dafür, zu welchem Grad sich die Newcomer*innen verpflichten wollen, was ihre Interessen und Fähigkeiten sind und wo ihr Platz in der Gruppe sein könnte.
Smucker vergleicht dieses Gespräch mit dem subtilen Werben bei einem Date. Man macht beim ersten Date keinen Heiratsantrag und schlägt dem Gegenüber auch nicht die eigene politische Analyse der letzten fünf Jahre um die Ohren. Im Gegenteil: man hört dem Gegenüber gut zu und stellt sich selber in einer Weise dar, die Lust auf mehr macht.
Wenn die Newcomer*innen sich danach auf ein minimales Commitment - einen Ask - einlassen, ist ein erster Schritt getan. So ein Ask kann zum Beispiel sein einmal zu einer thematischen Arbeitsgruppe zu kommen. Im echten Leben oder in einer Videokonferenz. Ich habe aber auch gute Erfahrungen gemacht mit dem Vorschlag einen Artikel auf der Website der Bewegung zu publizieren. Das hängt natürlich stark vom jeweiligen Kontext ab.
Bringt der/die Newcomer*in laufend Vorwände warum er/sie lieber nochmal auf Abstand gehen möchte oder Zeit braucht, macht man es auch wie bei einem Date: Man lässt die Person gehen und fragt ein oder zwei Wochen später noch einmal nach. Wenn die Newcomer*innen erstmal das Gefühl haben, dass ihre Arbeit wertgeschätzt und gebraucht wird, dann werden sie früher oder später auch bei einem Gruppentreffen erscheinen.
Politische Gruppenmeetings sind dazu da um Arbeitsgruppen abzustimmen, gemeinsame Aktionen zu planen und gemeinsam strategische Entscheidungen zu treffen. Hier wird auch manchmal hart gestritten oder Konflikte werden ausgetragen. Das ist kein guter Platz um Newcomer*innen für die gemeinsame politische Arbeit zu begeistern. Die von DiEM25 angewandte rhetorische Figur: „Europe is burning, we have to act now" ist gleich doppelt abschreckend für neue Mitglieder. Sie bekommen ein riesiges, weit entferntes Ziel genannt, ohne eine realistische Strategie, wie dieses in absehbarer Zeit erreicht werden kann. Gleichzeitig fordert so ein Aufruf sofortiges, maximales Commitment. Das ist keine charmante Einladung zu einem gemeinsamen Projekt, das Zeit und Energie kostet, aber auch Spaß machen soll.
Eine Lokalgruppe sollte mit Bedacht diejenigen Kernmitglieder auswählen die sich zum Recruiting eignen. Das sind Menschen die eine klare Vorstellung von den kurz- und langfristigen Zielen der Gruppe haben, die einen guten Draht zu Mitmenschen habe, die Lust auf das gemeinsame Projekt haben und dieses Feuer auch an andere weitergeben können. Eine intime Kenntnis der politischen Analyse ist nicht nötig. Sektierertum oder eine starre Vorstellung davon wer zur Gruppe gehören darf und wer nicht sind kontraproduktiv.
„Bewegungen brauchen Menschen, die sich mit Leib und Seele der Sache verschrieben haben, flexibel und frei von anderen Verpflichtungen oder Ablenkungen sind. Doch so wichtig diese Menschen auch sind, sie machen nur einen sehr kleinen Prozentsatz einer erfolgreichen sozialen Bewegung aus. Um erfolgreich zu sein, brauchen die meisten Bewegungen (auf nationaler Ebene) Zehntausende - wenn nicht Hunderttausende oder sogar Millionen - von Menschen, die bereit sind, etwas von sich selbst zu geben. Um sich in einer Weise in die Bewegung einzubringen, die zur organisatorischen Kapazität beiträgt, müssen sich diese Leute im Allgemeinen zuerst von den engagierteren Kernteilnehmern der Bewegung willkommen geheißen fühlen und dann von ihnen angeleitet werden. Abkapselung und die allgemeine Tendenz radikaler Gruppen, sich selbst zu isolieren, verhindert diese notwendige Beziehung und schafft eine unüberbrückbare Kluft, wo es ein Kontinuum von Ebenen der Beteiligung geben sollte - ebenso wie Ebenen der politischen Analyse - und lässt engagierte Radikale verwundbar, da sie von einer breiteren Bewegung abgeschnitten sind." [1]

[1] Aus „Hegemony How-To“ Chapter 3