4.2. Die Bewegung stehlen?
4 years ago by Subliminal_Guy
Der erste Impuls war natürlich eine Art besseres DiEM25 aufzubauen, doch allein der Gedanke daran lähmte mich. Wir hatten weder die Ressourcen noch das Netzwerk, weder die Struktur noch das Momentum um so ein Projekt realistisch anzugehen.
Kaum jemand hat die Ausdauer ständig Zeit und Energie in Recherche, Kommunikation und Organisation von Protest zu stecken. Unterschriften sammeln, Demos besuchen, Treffen abhalten, neue Mitglieder werben und auf den neuesten Stand bringen, Spenden auftreiben, Websites pflegen und Erklärungen schreiben, das alles kostet Energie und intrinsische Motivation ist nicht permanent verfügbar. Aktivist*innen brauchen einen Ort und eine Struktur zum Austausch von Erfahrungen, zur Verarbeitung von Frust, zur Regeneration und zur Neuorganisation. Oder etwa nicht? Ein offener Brief, der kurz nach meinem Austritt im Forum von DiEM25 veröffentlicht wurde, brachte mich zum Nachdenken.
A Letter by Honza
Ein Prager Mitglied, bekannt unter dem Usernamen Honza, stellte sich in einem längeren Post die Frage, warum die "toxischen" Mitglieder sich denn so obsessiv mit dem Coordinating Collective beschäftigten, wenn doch DiEM25 dezentral und lokal autonom gedacht werden konnte.
Dies war nicht das erste Mal, dass die Frage "What is keeping activists from getting active?" im Forum diskutiert wurde. Honza schrieb, dass er nicht verstehen könne, warum Mitglieder zurück- oder austreten: "Mein Vorschlag ist, dass die aktiven Mitglieder, die reihenweise austreten, eher die Bewegung stehlen sollten."
Honza versteht DiEM25s spontane Kollektive offenbar als Affinitätsgruppen, die es zum Beispiel auch bei den Anarchisten oder bei radikalen grünen Aktivisten gibt. Diese Affinitätsgruppen organisieren sich in der Regel selber und haben in vielen Fällen sogar Strategien für nachhaltigen Aktivismus und gruppeninterne Mediation. Sie erzeugen ihre eigene Stärke und können sich mit anderen Affinitätsgruppen zusammenschließen, wenn sie die gleichen Werte teilen. So entstehen natürliche, horizontale Grassroots-Strukturen.
Die vertikalen Teile einer Organisation wie DiEM25 (namentlich das Koordinierungskollektiv (CC) oder die nationalen Kollektive) wären dann zuständig dafür eine solche autonome Koordination zu ermöglichen, zu unterstützen und zu fördern.
Wenn Mitglieder aus- oder zurücktreten, so mutmaßte Honza in seinem Post, dann machen sie es, weil die vertikalen Organe bei dieser Aufgabe versagen. Aber warum organisieren die Affinitätsgruppen diese Aktivität nicht einfach selber, so seine Frage. Sie müssten ja nicht einmal das DiEM25-Label aufgeben, solange sie mit den Grundwerten einverstanden wären. Es wäre sogar möglich die Definition der Grundwerte sehr weit auszudehnen, da es für das Coordinating Collective nur sehr schwer möglich wäre eine Handlung im Namen von DiEM25 rechtlich zu unterbinden. Die lokalen Gruppen könnten im Prinzip machen was sie wollen, ja eine Untersagung könne sogar eine produktive Unterhaltung darüber fördern, wofür das DiEM25-Label eigentlich wirklich stehe.
Honza bemühte hier eine Metapher aus der Open Source Software-Szene: "Fork the Project", d.h. wenn man mit der Arbeitsweise eines Projekts nicht einverstanden ist oder es aus sonstigen Gründen anders weiterentwickeln will, macht man einfach eine Kopie und entwickelt diese eigenständig weiter.
Vereinfacht gesprochen war der Vorschlag von Honza den vertikalen Aspekt von DiEM25 zu ignorieren. Wie Arbeiter*innen, die den Betrieb einfach selbst organisieren, könnten die Mitglieder ihre eigene Version von DiEM25 leben und propagieren.
Zunächst sollte ich erwähnen, dass es tatsächlich schon zu solchen Abspaltungen gekommen ist. Es gibt zum Beispiel in Hamburg eine Gruppe die sich aus Ex-DiEM25er*innen zusammensetzt und die an einem Green New Deal für Hamburg arbeitet. Mich hat auch ehrlich erstaunt, dass diese Gruppe entstanden ist und nachhaltig Erfolg zu haben scheint. Denn es gibt einige Gründe warum ich es nicht für sinnvoll halte die Strategie zu verfolgen die Honza vorschlägt.
1. Es ist prinzipiell eine gute Idee Ressourcen kollektiv zu organisieren und zu nutzen. DiEM25 erhebt (freiwillige) Mitgliedsgebühren, organisiert Fundraisings und bezahlt Personal (ex officios), welches wichtige Schlüsselfunktionen wie IT, Freiwilligen-Koordination, Pressearbeit und Buchhaltung betreut. Den Mitgliedern steht unter anderem ein gemeinsames Forum, eine Website, eine Cloud und ein Übersetzungsservice zur Verfügung, wenn auch der Zugang zu diesen Services nicht selbstverständlich ist. Wenn ein Gruppe sich abspaltet und autonom operiert, dann kann ihr der Zugang zu dieser Infrastruktur versperrt werden. Auch die Kommunikationsstrukturen - innerhalb DiEM25s durch Newsletter und Forum gewährleistet - müssten neu aufgebaut werden.
2. Organisationen wie DiEM25 stellen eine Möglichkeit dar die Atomisierung und das Nischendasein in der Gesellschaft zu überwinden. Das Gefühl mit Menschen aus ganz Europa an einem Ziel zu arbeiten war die Haupttriebkraft, die mich zu meinem Engagement bei DiEM25 motiviert hat. In einer abgespaltenen lokalen Gruppe, die unter Umständen mit rechtlichen Manövern des Managements der Bewegung (i.d.F. des Coordinating Collectives) zu kämpfen hat, ist die transeuropäische Verbundenheit schlecht zu vermitteln.
3. Eine konzertiert und gemeinsam arbeitende Organisation ist auch deshalb wichtig, weil die Bewegung über einen kleinen Kreis von Kern-Aktivist*innen hinaus wirksam sein soll. Eine Person wie Yanis Varoufakis oder auch Srećko Horvat und die - zumindest fiktionale - Nähe zu Sympathisant*innen wie Naomi Klein und Noam Chomsky wird von vielen Mitgliedern affektiv besetzt und erleichtert in vielen Fällen kollektives Handeln. Wenn diese Personen oder ihre Stellvertreter*innen glaubhaft vermitteln können, dass das Mitgliederengagement wahrgenommen und begrüßt wird, dann motiviert dies enorm. Wenn diese Personen sich aber im Namen der Organisation offen gegen einzelne Lokalgruppen stellen, kann dies für große Probleme in der Motivation und Selbstlegitimation sorgen.
4. Für abstrakte Ideen - wie die oft zitierte Demokratisierung Europas - lassen sich Menschen schwer mobilisieren. Um in der Größenordnung einer politischen Bewegung zu agieren braucht man konkrete, realistische, klar definierte und inkludierende Ziele. Die Bereitstellung eines Referenzrahmens - etwa durch das DiEM25 Manifest und ein paar halbfertige Politikpapiere - ist nicht ausreichend um mittel- oder langfristige politische Arbeit auf relevantem Niveau zu erreichen. Auch wenn die Einzelgruppen über gute enorme zeitliche und personelle Ressourcen verfügen.
Weiterhin vergisst Honza in seinem Post die Frage nach den strategischen Zielen der Bewegung als Ganzes. Wenn sich DSCs als autonome Gruppen verstehen, die zwar inhaltlich mit der Bewegungsführung übereinstimmen, aber u.U. die strategischen Zielsetzungen nicht teilen, ist es schwer vorstellbar, wie die Bewegung quantitativ skalieren soll. Affinitätsgruppen haben mit vielerlei gruppendynamischen Problemen zu kämpfen, die es schwierig machen eine auf quantitative Ausdehnung angelegte Strategie zu verfolgen.
Wenn die lokale Gruppe oder das spontane Kollektiv sich hingegen eher als taktisches Tool sieht, das beispielsweise lokale Störaktionen, Unterschriftenkampagnen, Demonstrationen oder Bürgerversammlungen organisiert, wäre es aus der Sicht einer großen Bewegung wünschenswert, wenn es eine übergeordnete Strategie gibt, die die lokalen Aktionen und Gruppen koordiniert. Dazu ist es aber - zumal in einer radikaldemokratischen Bewegung - unabdinglich, dass diese übergeordnete Strategie nicht (ausschließlich) von oben implementiert wird.
Und schon sind wir wieder bei dem Problem der mangelnden Mitbestimmungs- und Mitgestaltungsmöglichkeiten bei DiEM25. Wenn das dialektische Verhältnis aus dem Entwurf einer gemeinsamen europäischen oder globalen Strategie - die dann wieder die Koordination der lokalen Aktionen bestimmt - nicht funktioniert, dann hilft es auch nichts, wenn sich die lokale Gruppe unabhängig macht. Eine solche Gruppe würde nicht mehr viel von einer x-beliebigen Affinitätsgruppe unterscheiden. Als Faustregel gilt: Die Basis bestimmt die Strategie, die Führungsebene bestimmt die Taktik.
Der Ansatz von Honza mag sympathisch sein in seiner anarchischen Suche nach einen Ausweg aus dem Dilemma enttäuschter und resignierter Mitglieder. Bei genauerem Hinsehen offenbaren sich aber Widersprüche, die - wenn man sie zu Ende denkt - die Mitgliedschaft in einer transeuropäischen Bewegung ad absurdum führen.
Man darf nicht aus den Augen verlieren, dass es DiEM25s erklärtes Ziel war ein politisches Zuhause für Menschen aller Altersgruppen links von der Sozialdemokratie oder gar dem gemäßigten Konservatismus zu bieten. Ein loser Zusammenschluss aus Lokalgruppen die sich einem gemeinsamen Wertekanon verpflichtet sehen löst wenig von dieser Versprechung ein. Gute Grassroots-Organisationen geben darauf acht die Impulse aus den Grassroots aufzunehmen und sie in der Struktur verlässlich und effektiv weiterzuleiten. Gleichzeitig sind sie dafür zuständig im Namen der Organisation Lob und Anerkennung auszusprechen. [1]
Was bei DiEM25 nicht existiert ist ein Plan wie man eine europaweite Bewegung aufbauen möchte, die über eine Handvoll Hardcore-Aktivist*innen in Ballungsräumen hinausgeht und in der Zwischenzeit meßbare politische Erfolge jenseits von Online-Petitionen, Online-Talks, Ausstellungen und Buchveröffentlichungen erzielen kann. Eine solche zahlenmäßig nicht zu vernachlässigende Bewegung zu fördern, die sich gemeinsam auf regionale, lokale und europäische Strategien einigt und diese effektiv im jeweiligen Territorium verfolgt ist die große, vielleicht historische Aufgabe einer transeuropäischen Bewegung. DiEM25 ist mittlerweile vielleicht weiter von einem solchen Ziel entfernt als ein neugegründetes Konstrukt.
Ob transeuropäisch, international oder lokal, wie sollte es weitergehen für unsere loses Häufchen ausgebrannter Aktivist*innen?
[1] Ich bin davon überzeugt, dass allein ein kleines System von bunten Badges - also kleiner Icons auf der DiEM25-Website - das die Mitglieder für besondere Leistungen belohnt, schon einen Unterschied gemacht hätte. Es ist nicht so schwer Wertschätzung durch Leader*innen zu vermitteln. Bei DiEM25 wird überdurchschnittliches Engagement hingegen entweder ignoriert, bekämpft oder vereinnahmt.