4.1. What the fuck happened?
4 years ago by Subliminal_Guy
Nach dem Ausstieg bei DiEM25 fiel ich erwartungsgemäß in ein großes Loch. Was war denn da passiert? Wie konnte ein so grandioses Projekt so kläglich scheitern?
Viele Situationen die ich bei DiEM25 erlebt habe erinnerten mich an die surrealen Ereignisse die Franz Kafka in seinen Romanen "Das Schloss" und "Der Prozess" so eindringlich schildert. Die Macht - so lässt sich Kafka interpretieren - hat keinen eindeutig definierbaren Ort mehr, sondern ist - für uns unerreichbar - verborgen. Dies ließe sich u.a. auch für die Europäische Union und ihre Eurogruppe sagen, wie sie von Yanis Varoufakis in seinem Bestseller „Adults in the Room - dt.: Die ganze Geschichte“ beschrieben wird:
Wichtige Entscheidungen sind nicht mehr für demokratische Prozesse zugänglich. Sie sind immer schon bereits in einem anderen Gremium oder Vertrag getroffen worden. Wichtige Themen können in den öffentlichen Sitzungen nicht diskutiert werden, sondern werden ständig aufgeschoben oder auf einen anderen Ort und eine andere Zeit verschoben. Sicherlich kann man an die Delegierten seines Staates schreiben, aber auch diese verstecken sich hinter anonymen Büroangestellten, die unzuständig und machtlos sind.
Dieser Zustand hatte ursprünglich dazu geführt, dass ich Mitglied bei DiEM25 wurde und mich verpflichtete bis zu 20 Stunden wöchentlicher Arbeit für die Bewegung zu leisten: Website-Pflege und -Administration, Vorstandsarbeit, Arbeit im nationalen Kollektiv, Event-Organisation, inhaltliche Arbeit in Artikeln und Positionspapieren usw.
Man könnte mit Recht annehmen, dass ich während dieser Arbeit einen gewissen Einblick gewonnen hätte, wo die Entscheidungen von DiEM25 getroffen wurden, wer verantwortlich war und bei wem man Beschwerde einlegen konnte. Die knappe Antwort ist: Nein, habe ich nicht. DiEM25 blieb für mich bis zum Schluss eine schwer durchschaubare Angelegenheit. Ein Konstrukt, so unzugänglich für mich wie es Kafkas Schloss für den Landvermesser K. ist.
DiEM25s spontane Kollektive sind nur eine "Gruppe von Freunden", die im Einklang mit DiEM25s Agenda handeln dürfen. Eine Agenda, die - in der Theorie - durch einen offenen Prozess entworfen wird. Ein Prozess, der so gut wie nie stattgefunden hat. Allianzen und Aktionen werden plötzlich und schlagartig gebildet, oft zum Erstaunen aller die davon betroffen sind - von einzelnen Mitgliedern bis hin zu nationalen Kollektiven. Politische Agenden entstehen aus dem Nichts ohne klaren Prozess, während der offizielle Prozess der Progressiven Agenda selbst schändlich vernachlässigt wird.
Appelle an einzelne Mitglieder des Coordinating Collective werden oft nicht beantwortet. Diejenigen die antworten, geben zu, dass sie keine Macht haben etwas zu ändern - unter anderem auch weil es keine "Geschäftsordnung" im zentralen Koordinierungsorgan der Bewegung gibt. Man vertraut sich dort blind.
Manchmal - so wie es K. in "Der Prozess" passiert - stolpert man in einen Raum, in dem gerade ein wichtiger Prozess stattzufinden scheint. Aber immer ist man zu spät, denn die zugrundeliegenden Regeln wurden bereits anderswo beschlossen. Von wem? Unklar. Man kann eMails an einzelne ex officios oder CC-Mitglieder verschicken, aber dieser Prozess ähnelt den verstreuten Telefonen in Kafkas Schloss: Man bekommt vielleicht eine Antwort, aber sie ist vage und unverbindlich. Wie in den Callcentern der multinationalen Konzerne.
Der Souverän ist, so wird sich ein ordentliches Mitglied beeilen zu versichern: Die Mitgliedschaft. Diese Mitgliedschaft wird jedoch nur vereinzelt durch plebiszitäre Online-Abstimmungen befragt, die manchmal von erstaunlich tendenziösen Wahlempfehlungen begleitet werden. Jede andere Äußerung von Teilen der Mitgliedschaft - seien es mehrere nationale Kollektive, ein Dutzend DSCs oder gar eine große Gruppe mit einzelnen CC-Mitgliedern - wird zu "Einzelmeinungen", "toxischen Mitgliedern" oder einem anderen irrelevanten Status degradiert.
Jede Beschwerde auf einem Gruppentreffen, in einer Chat-Gruppe oder in einem Online-Meeting wird in das Forum verbannt, das ein undurchdringliches Durcheinander ist, das von ein paar überforderten Moderator*innen zusammengehalten wird. Um das geflügelte Wort über das Europaparlament aus der Serie Borgen etwas abzuwandeln: „Im Forum hört dich niemand schreien!“
Ein Alptraum, aus dem ich nur durch meinen Rück- und Austritt erwacht bin.
Wenn ich nach meinem Austritt mit meinen nicht politisch engagierten Freund*innen über die Ereignisse sprach, war die Antwort oft: „So ist das eben in der Politik. Jede*r kämpft nur für sich alleine und am Ende geht es nur um Macht und Einfluss.“ Und DiEM25, so sagten sie, war ja noch nicht einmal ansatzweise in der Nähe von realer Macht gewesen.
Diese Antworten wühlten mich noch mehr auf. Sollte ich die Unfähigkeit von DiEM25 funktionierende Strukturen aufzubauen, interne Demokratie zu praktizieren und stabile Allianzen zu anderen Organisationen und Parteien zu pflegen als unveränderlichen Status Quo akzeptieren? Dies schien mir eine faule Schlussfolgerung zu sein. Was ich brauchte war eine Analyse davon was bei DiEM25 nicht funktioniert hatte und eine Art Handbuch für zukünftige progressive Bewegungen und Organisationen.
Wie kann man vermeiden die alten Fehler immer und immer wieder zu wiederholen? Glücklicherweise gibt es Dutzende Bücher, Kurse und Podcasts über Community Organizing, Nachhaltigen Aktivismus und bessere Formen der demokratischen Zusammenarbeit. Ich beschloss diese durchzuarbeiten und mit dem Blick durch die DiEM25-Brille zu analysieren. Dieser Prozess dauert noch an.
In der Zwischenzeit läuft die Berliner Kampagne um den Volksentscheid Deutsche Wohnen und Co. Enteignen auf Hochtouren um den durch internationale Investoren überhitzten Mietmarkt in der Großstadt zurückzuerobern, medizinische Angestellten haben sich in der Berliner Krankenhausbewegung zusammengetan um mehr als Applaus vom Balkon einzufordern und gerade vor einer Woche blockierten solidarische Fahrradkurier*innen Filialen des Startups Gorillas um arbeitsrechtliche Mindeststandards für sich zu erkämpfen.
Bei aller Euphorie, die ich verspüre wenn ich diese Bewegungen beobachte, beschleicht mich aber auch die Angst davor, dass diese kurze Phase der verstreuten, temporären Widerstände wieder vorbei sein könnte, bevor sie überhaupt angefangen hat. Wie können all diese Kämpfe in einem kooperativen, vernetzten und untereinander solidarischen Biotop aus Organisationen, Bewegungen und Parteien gebündelt werden? Und kann dies auf europäischer Ebene funktionieren? Welche Formen der Organisation brauchen wir und wir halten wir sie am Leben? Auf diese Fragen werde ich in den nächsten Kapiteln erste Antworten suchen.
Viele Situationen die ich bei DiEM25 erlebt habe erinnerten mich an die surrealen Ereignisse die Franz Kafka in seinen Romanen "Das Schloss" und "Der Prozess" so eindringlich schildert. Die Macht - so lässt sich Kafka interpretieren - hat keinen eindeutig definierbaren Ort mehr, sondern ist - für uns unerreichbar - verborgen. Dies ließe sich u.a. auch für die Europäische Union und ihre Eurogruppe sagen, wie sie von Yanis Varoufakis in seinem Bestseller „Adults in the Room - dt.: Die ganze Geschichte“ beschrieben wird:
Wichtige Entscheidungen sind nicht mehr für demokratische Prozesse zugänglich. Sie sind immer schon bereits in einem anderen Gremium oder Vertrag getroffen worden. Wichtige Themen können in den öffentlichen Sitzungen nicht diskutiert werden, sondern werden ständig aufgeschoben oder auf einen anderen Ort und eine andere Zeit verschoben. Sicherlich kann man an die Delegierten seines Staates schreiben, aber auch diese verstecken sich hinter anonymen Büroangestellten, die unzuständig und machtlos sind.
Dieser Zustand hatte ursprünglich dazu geführt, dass ich Mitglied bei DiEM25 wurde und mich verpflichtete bis zu 20 Stunden wöchentlicher Arbeit für die Bewegung zu leisten: Website-Pflege und -Administration, Vorstandsarbeit, Arbeit im nationalen Kollektiv, Event-Organisation, inhaltliche Arbeit in Artikeln und Positionspapieren usw.
Man könnte mit Recht annehmen, dass ich während dieser Arbeit einen gewissen Einblick gewonnen hätte, wo die Entscheidungen von DiEM25 getroffen wurden, wer verantwortlich war und bei wem man Beschwerde einlegen konnte. Die knappe Antwort ist: Nein, habe ich nicht. DiEM25 blieb für mich bis zum Schluss eine schwer durchschaubare Angelegenheit. Ein Konstrukt, so unzugänglich für mich wie es Kafkas Schloss für den Landvermesser K. ist.
DiEM25s spontane Kollektive sind nur eine "Gruppe von Freunden", die im Einklang mit DiEM25s Agenda handeln dürfen. Eine Agenda, die - in der Theorie - durch einen offenen Prozess entworfen wird. Ein Prozess, der so gut wie nie stattgefunden hat. Allianzen und Aktionen werden plötzlich und schlagartig gebildet, oft zum Erstaunen aller die davon betroffen sind - von einzelnen Mitgliedern bis hin zu nationalen Kollektiven. Politische Agenden entstehen aus dem Nichts ohne klaren Prozess, während der offizielle Prozess der Progressiven Agenda selbst schändlich vernachlässigt wird.
Appelle an einzelne Mitglieder des Coordinating Collective werden oft nicht beantwortet. Diejenigen die antworten, geben zu, dass sie keine Macht haben etwas zu ändern - unter anderem auch weil es keine "Geschäftsordnung" im zentralen Koordinierungsorgan der Bewegung gibt. Man vertraut sich dort blind.
Manchmal - so wie es K. in "Der Prozess" passiert - stolpert man in einen Raum, in dem gerade ein wichtiger Prozess stattzufinden scheint. Aber immer ist man zu spät, denn die zugrundeliegenden Regeln wurden bereits anderswo beschlossen. Von wem? Unklar. Man kann eMails an einzelne ex officios oder CC-Mitglieder verschicken, aber dieser Prozess ähnelt den verstreuten Telefonen in Kafkas Schloss: Man bekommt vielleicht eine Antwort, aber sie ist vage und unverbindlich. Wie in den Callcentern der multinationalen Konzerne.
Der Souverän ist, so wird sich ein ordentliches Mitglied beeilen zu versichern: Die Mitgliedschaft. Diese Mitgliedschaft wird jedoch nur vereinzelt durch plebiszitäre Online-Abstimmungen befragt, die manchmal von erstaunlich tendenziösen Wahlempfehlungen begleitet werden. Jede andere Äußerung von Teilen der Mitgliedschaft - seien es mehrere nationale Kollektive, ein Dutzend DSCs oder gar eine große Gruppe mit einzelnen CC-Mitgliedern - wird zu "Einzelmeinungen", "toxischen Mitgliedern" oder einem anderen irrelevanten Status degradiert.
Jede Beschwerde auf einem Gruppentreffen, in einer Chat-Gruppe oder in einem Online-Meeting wird in das Forum verbannt, das ein undurchdringliches Durcheinander ist, das von ein paar überforderten Moderator*innen zusammengehalten wird. Um das geflügelte Wort über das Europaparlament aus der Serie Borgen etwas abzuwandeln: „Im Forum hört dich niemand schreien!“
Ein Alptraum, aus dem ich nur durch meinen Rück- und Austritt erwacht bin.
Wenn ich nach meinem Austritt mit meinen nicht politisch engagierten Freund*innen über die Ereignisse sprach, war die Antwort oft: „So ist das eben in der Politik. Jede*r kämpft nur für sich alleine und am Ende geht es nur um Macht und Einfluss.“ Und DiEM25, so sagten sie, war ja noch nicht einmal ansatzweise in der Nähe von realer Macht gewesen.
Diese Antworten wühlten mich noch mehr auf. Sollte ich die Unfähigkeit von DiEM25 funktionierende Strukturen aufzubauen, interne Demokratie zu praktizieren und stabile Allianzen zu anderen Organisationen und Parteien zu pflegen als unveränderlichen Status Quo akzeptieren? Dies schien mir eine faule Schlussfolgerung zu sein. Was ich brauchte war eine Analyse davon was bei DiEM25 nicht funktioniert hatte und eine Art Handbuch für zukünftige progressive Bewegungen und Organisationen.
Wie kann man vermeiden die alten Fehler immer und immer wieder zu wiederholen? Glücklicherweise gibt es Dutzende Bücher, Kurse und Podcasts über Community Organizing, Nachhaltigen Aktivismus und bessere Formen der demokratischen Zusammenarbeit. Ich beschloss diese durchzuarbeiten und mit dem Blick durch die DiEM25-Brille zu analysieren. Dieser Prozess dauert noch an.
In der Zwischenzeit läuft die Berliner Kampagne um den Volksentscheid Deutsche Wohnen und Co. Enteignen auf Hochtouren um den durch internationale Investoren überhitzten Mietmarkt in der Großstadt zurückzuerobern, medizinische Angestellten haben sich in der Berliner Krankenhausbewegung zusammengetan um mehr als Applaus vom Balkon einzufordern und gerade vor einer Woche blockierten solidarische Fahrradkurier*innen Filialen des Startups Gorillas um arbeitsrechtliche Mindeststandards für sich zu erkämpfen.
Bei aller Euphorie, die ich verspüre wenn ich diese Bewegungen beobachte, beschleicht mich aber auch die Angst davor, dass diese kurze Phase der verstreuten, temporären Widerstände wieder vorbei sein könnte, bevor sie überhaupt angefangen hat. Wie können all diese Kämpfe in einem kooperativen, vernetzten und untereinander solidarischen Biotop aus Organisationen, Bewegungen und Parteien gebündelt werden? Und kann dies auf europäischer Ebene funktionieren? Welche Formen der Organisation brauchen wir und wir halten wir sie am Leben? Auf diese Fragen werde ich in den nächsten Kapiteln erste Antworten suchen.
Alex H.
a year ago
"The absence of the usual party structures running from grassroots to leadership—obviated through digital consultancy and plebiscitary tools—led to “super-volunteers” becoming a new sort of internal oligarchy, making decisions behind the backs of the mass of online supporters (...)" aus https://americanaffairsjournal.org/2024/02/omelets-with-eggshells-on-the-failure-of-the-millennial-left/