3.4. Bundeskollektiv versus Varoufakis

4 years ago by Subliminal_Guy

Anfang April 2020 traten zwei Mitglieder des Coordinating Collective - eine von ihnen die Ex-Europaparlament-Kandidatin Daniela Platsch - aus ihrem Amt zurück. Das andere Mitglied erhob intern erhebliche Vorwürfe gegen die Diskussions- und Entscheidungskultur im Coordinating Collective. Die Schilderungen des Mitglieds legten nahe, dass Varoufakis im patriarchalischen Führungsstil das Gremium beherrschen würde und es regelmäßig zu verbalen Wutausbrüchen komme. Viele Mitglieder waren geschockt von diesen Berichten und einige CC-Mitglieder bemühten sich diese Äußerungen zu relativieren. Varoufakis selber äußerte wenig später seine Enttäuschung über die Form - nicht den Inhalt - der Enthüllungen. Er hätte es lieber gesehen, dass das Ex-CC-Mitglied den Code of Conduct-Prozess genutzt hätte, ein Prozess, der eigens geschaffen worden war um solche internen Angelegenheiten zu klären. Im Forum ausgebreitet sei dies nur Brennstoff für Gerüchte und die Kampagnen unzufriedener Mitglieder.
In der Tat hatte sich das ausgeschiedene CC-Mitglied bereits an uns, das Bundeskollektiv, gewandt, um uns um Rat zu fragen. Das Code of Conduct-Dokument enthält mehrere Paragraphen, die unerwünschtes oder zu ahndendes Verhalten unter Mitgliedern (und von Organen der Bewegung gegenüber Mitgliedern) beschreiben. Dort ist auch festgelegt, dass alle zwei Monate ein anderes Nationalkollektiv einem etwaigen Beschwerdeprozess vorsitzen sollte. Ein Rotationsprinzip ähnlich dem der europäischen Ratspräsidentschaft. Im Juni/Juli 2020 waren dies nun wir, das Bundeskollektiv.
In langen Besprechungen und in Abstimmungen mit dem Ex-Mitglied rieten wir dem Mitglied den Verfahrensweg nicht zu beschreiten, da der Prozess aller Voraussicht nach in Bürokratie begraben werden würde. Wir überliessen es dem Mitglied ob es ein solches Verfahren initiieren wollte. Dafür wurden wir unter anderem in einer Sitzung des Coordinating Collective kritisiert. Nur ein Code of Conduct-Prozess sei dem Geschehen angemessen. Das Coordinating Collective habe weder die Mittel noch die Macht einen solchen Prozess zu begraben.
Am 31. Juli 2020 entschied sich das Ex-CC-Mitglied, zusammen mit einem weiteren, jetzt auch ehemaligen, CC-Mitglied eine Klage beim Bundeskollektiv einzureichen. Dies geschah begleitet von einem Konvolut an interen eMails, Dokumenten und Screenshots von Chatverläufen. Wir waren am letzten Tag unserer Zuständigkeit aufgerufen worden ein internes Verfahren gegen Yanis Varoufakis einzuleiten.
Man wird sich denken können, dass wir diese Aufgabe nicht leicht nahmen. Wir entschlossen uns zuerst die Beteiligten zu informieren und die Beweise gründlich zu sichten. Varoufakis teilte uns mit, dass er im August in den wohlverdienten Sommerurlaub ginge, er aber prinzipiell ein faires Verfahren für richtig halte. Dies gab uns einige Wochen Zeit uns den Fall genauer anzusehen. Wir sortierten und kommentierten die Belege und hielten per Videokonferenz Rücksprache mit den Kläger*innen. Vieles von dem was wir sahen und zu hören bekamen, hatten wir in ähnlicher Form schon vermutet, beziehungsweise kannten wir aus eigener Erfahrung. Einige Dokumente wiederum legten zwar unschönes nahe, enthielten aber oft nicht mehr als Indizien. Wir einigten uns drauf drei Hauptpunkte zu verfolgen.
Wieder aus dem Urlaub zurück teilte uns Varoufakis mit, dass er nicht zu einer Videoanhörung bereit sei, da er die Papierform bevorzuge. Er verlangte auch den Originaltext der Beschwerde zu bekommen. Wir berieten - vielleicht etwas zu lange - ob wir dies tun sollten oder ob wir die einreichenden Mitglieder schützen müssten. Wir waren ja alle juristische Laien und das Code of Conduct-Dokument war äußerst knapp gehalten. Außerdem waren wir sehr nervös, denn nicht alle Tage schreibt man sich mit Yanis Varoufakis quasi-juristische eMails. Wir mussten auf jedes Wort achten.
Varoufakis war wesentlich geübter als wir und webte nach und nach Verweise auf verfahrenstechnische Fehler in die eMails ein. Eine der Klägerinnen sei gar kein Mitglied der Bewegung mehr und dürfe deswegen den Prozess nicht weiterführen. Die andere Person sei nicht selber bei den Ereignissen dabei gewesen und um Hörensagen zu vermeiden, sollen nur Augenzeugenberichte zugelassen sein. Wir verneinten Zweiteres heftig, da dies unserer Ansicht nach keinen Sinn machte. Die meiste Kommunikation in DiEM25 lief medial vermittelt, über Zoom-Konferenzen und vieles wurde aufgezeichnet oder sogar live gestreamt. Wer galt in einer solchen Situation als Augenzeuge und wer nicht?
Schließlich verfasste Yanis eine lange Antwort auf die Anschuldigungen und riet uns den Fall nicht an das Validating Council - ein Gremium aus hundert zufällig ausgelosten Mitgliedern (siehe letztes Kapitel) - weiterzugeben. Wir schickten ihm zur Antwort eine Liste von Fragen zu dem Fall.
Es folgte eine lange eMail die uns entrüstet mehrere Formfehler vorwarf, unter anderem eine Missachtung der Europäischen Menschenrechtskonvention (!) und der Datenschutzgrundsatzverordnung. Wir dürften den Fall keinesfalls an das Validating Council weiterleiten und es wurden Verfahrensschritte gegen uns angedroht. Wir gerieten stark unter Druck. Eine weitere eMail des Coordinating Collective erreichte uns, die unsere vermeintlichen verfahrenstechnischen Verfehlungen weiter ausführten. Ich fragte bei meinem Kontakt im CC nach. Rückmeldung: Man hielt unser Vorgehen für falsch und war dazu entschlossen den Prozess zu stoppen. Wir antworteten ausführlich auf die uns zur Last gelegten Punkte und kündigten an den Fall weiterhin zum Validating Council weiterleiten zu wollen. In unseren Augen das einzige neutrale Gremium in dieser Angelegenheit.
Kurz darauf erhielten wir eine Antwort eines weiteren CC-Mitglieds. Man sei betrübt darüber, dass wir die Angelegenheit nicht fallen ließen, obwohl uns ja die legalen und verfahrenstechnischen Fehler bekannt seien. Wir sollten uns entscheiden ob wir immer noch die Originalklägerinnen vertreten würden oder ob wir nun selber einen Fall eröffnen und ihn beim italienischen Nationalkollektiv einreichen wollten. Dies kam für uns überraschend, da uns bisher nicht die prinzipielle Zuständigkeit für den Fall abgesprochen worden war.
Uns wurde klar, das vieles was Varoufakis in seiner Korrespondenz vorgeschlagen oder angemerkt hatte vom Coordinating Collective als faktisch vorausgesetzt wurde, obwohl die Code of Conduct-Richtlinien für diese Behauptungen keine Grundlage boten. Uns war aber ebenfalls klar, dass es keine Instanz gab, die dies klären konnte. Man warf uns vor als Ankläger*innen und Richter*innen in Personalunion zu agieren und nutzte die eigene Machtposition um Fakten zu schaffen.
Die einzige Instanz die uns jetzt noch helfen konnte war das Validating Council. Wenn wir ihnen alle Dokumente zugänglich machen konnten. Sowohl unsere Evaluation als auch die Antwort des Coordinating Collective.
Leider kam man uns zuvor, schickte ein Dokument an das Validating Council in dem wir diverser Vergehen angeklagt wurden, ohne unsere Position oder nähere Details zu der Angelegenheit zu nennen. Auf unsere Anfrage, ob unsere Position auch übermittelt worden war, erhielten wir nur die Antwort man habe alle nötigen Informationen übermittelt. Als einige Validating Council-Mitglieder verlangten, mit uns sprechen zu können, wurde ihnen dieses verweigert. Wir bekamen das Dokument nur in die Hände, weil wir zufällig jemanden aus dem aktuellen Validating Council kannten. Das Dokument entpuppte sich als völlig einseitige Darstellung und zur Abstimmung stand uns das Verfahren zu entziehen und in Zukunft nur noch "moralisch zulässige" Beweise in einem internen Verfahren zu erlauben.
An diesem Punkt entschied ich mich sofort zurückzutreten. Buchstäblich bis zu diesem Punkt hatte ich immer geglaubt es handele sich bei den vielen Scharmützeln mit dem Kreis um Varoufakis um Missverständnisse, mangelnde direkte Kommunikation, graduell unterschiedliche Auffassungen von Transparenz und Rechenschaftspflicht oder persönliche Animositäten. Der geschilderte Fall konnte aber unter keinem Gesichtspunkt so interpretiert werden.
Das zentrale Koordinierungsorgan von DiEM25 hatte sich bewusst entschieden die einzige neutrale Gerichtsbarkeit der Bewegung zu täuschen und gleichzeitig dafür zu sorgen, dass nie wieder ein fundiert belegbarer Fall an das Validating Council weitergegeben werden könnte [1].
Damit war die Sache für mich klar: In DiEM25 würde nie etwas passieren, wenn Yanis Varoufakis nicht damit einverstanden war. Sowie sich die Lage darstellte, konnte ich keinen Tag mehr organisatorische Verantwortung übernehmen. Ich trat zurück und wenige Woche später folgte das ganze Nationalkollektiv. Man teilte uns kurz mit, dass das Validating Council entschieden hatte uns den Fall zu entziehen und wir das neu zuständige Gremium in Italien anrufen könnten. Die eMail endete mit einer kurze Floskel über unseren Rücktritt. Thank you for your service! Meine Mitgliedschaft in der Bewegung und im deutschen Wahlflügel kündigte ich kurze Zeit später.
Der Stachel, dass wir in dieser Weise daran gehindert worden waren dem Coordinating Collective einen Spiegel vorzuhalten und zu vielleicht schmerzhaften - aber unserer Ansicht nach notwendigen - internen Reformen anzuregen, saß tief. Für mich war klar, dass das Fazit eines solchen Endes nicht banal sein durfte. Ich hatte viel Hoffnung in DiEM25 gesetzt und es war das erste Mal, dass ich mich in diesem Umfang und mit solchem Einsatz an einem politischen Projekt beteiligt hatte.
Ich habe anderen oft gesagt, dass ich in DiEM25 bleiben würde, weil ich sonst nicht wüßte wo eine politische Heimat sein könnte. Links, progressiv und pro-europäisch. Eine ökonomische Analyse auf der Höhe der Zeit und pragmatische Reformvorschläge. Und einen charismatischen, international geschätzten Gründervater, der dem Ganzen politisches und kulturelles Kapital verlieh. Aber was nützte unserer Sache eine charismatische Führungsfigur, wenn diese Person in einer selbst geschaffenen Blase lebte, abgeschottet von der Basis und selbstherrlich Artikel und Policies diktierend? Selbst als Mitglieder im nationalen Überbau erfuhren wir von Projekten wie der Progressiven Internationalen oder dem Green New Deal for Europe erst nachdem sie den Schreibtisch von Yanis Varoufakis verlassen hatten.
Meine Erfahrungen in DiEM25 müssen für irgendetwas gut sein und wenn auch nur dafür, dass ich die Fehler, die gemacht wurden genau analysiere und Vorschläge mache wie wir es beim nächsten Mal besser machen konnten. Welche strukturellen Fehler sind gemacht worden? Wie sollte eine transeuropäische Organisation aufgebaut sein? Wie kann man gezielt Grassroots-Strukturen aufbauen, die diesen Namen verdienen? Wie baut man charismatische Leader*innen auf, die medial und programmatisch überzeugen, die aber nicht nach kurzer Zeit ihr politisches Kapital anderweitig einsetzen? Wie verhindert man Machtverkrustungen an der Spitze einer Organisation? Wie sorgt man für strukturierte Feedback-Loops ohne eine endlose Informationsflut zu erzeugen? Wie sorgt man für eine Regeneration der Ressourcen, wenn Erfolge so selten sind? Welche Ziele setzt man sich, wie setzt man sie und wie bemisst man ihren Erfolg? Davon und von meiner weiteren Reise im Haifischbecken der politischen Bewegungen handelt der zweite Teil dieses Buches.
[1] Wie ein Kollege aus dem Nationalkollektiv später schrieb, war die Idee eines "moralischen Beweises" ein Relikt aus der Scholastik und eine pseudo-legalistische Beschreibung dafür, dass das CC keinesfalls schriftliche Beweise zulassen würde in denen Varoufakis kompromittiert wurde.