2.6. Der Spitzenkandidat

4 years ago by Subliminal_Guy

Die Tatsache, dass Varoufakis nun definitiv für den Listenplatz 1 bei DEMOKRATIE IN EUROPA vorgeschlagen worden war, bescherte unserer Mitglieds- und Aufstellungsversammlung ein erhebliches Upgrade. Die Location wurde von einem Mehrzwecksaal in Hannover in ein Startup-Loft in Berlin-Neukölln verlegt. Der Preis der Veranstaltung verzehnfachte sich. Man mag dies als eine Metapher dafür ansehen was unsere Sonstige politische Vereinigung mit und ohne Yanis Varoufakis wert war. Die TAZ schrieb dazu am 20.11.2018:
"Ein Antritt von Varoufakis in der Bundesrepublik würde sicherlich nicht nur den Europawahlkampf beleben, sondern auch 'Demokratie in Europa' eine größere öffentliche Aufmerksamkeit bescheren. Das wäre auch dringend notwendig, um zumindest auf einen Achtungserfolg hoffen zu können. Denn bislang ist die Resonanz auf das Wahlbündnis, das einen 'New Deal für Europa' fordert und politisch irgendwo zwischen den Grünen und der Linkspartei angesiedelt ist, ziemlich gering."
Auch das gesamte Coordinating Collective würde zeitgleich zur Mitgliederversammlung tagen und alles fieberte dem letzten Novemberwochenende entgegen. Dass der Listenplatz von Varoufakis von den tatsächlichen DEMOKRATIE IN EUROPA-Mitgliedern bestätigt werden würde, stellte niemand ernsthaft in Frage. Trotzdem konnten sich während der Aufstellungsversammlung noch weitere Kandidat*innen für jeden Listenplatz melden. Dies verlangte - nach Auslegung unserer Jurist*innen - das Parteiengesetz und auch die Gegner*innen unseres Experiments würden die Veranstaltung aufmerksam begleiten.
Die Versammlungsleitung wies also während der Veranstaltung deutlich daraufhin, das weitere Kandidaturen - die nicht auf der Vorschlagsliste von DiEM25 standen - erwünscht seien. Es meldeten sich dann auch weitere Kandidat*innen für diverse Listenplätze. Und einer - ein Alt-68er mit dem Spitznamen Woody - trat in Konkurrenz zu Varoufakis für den ersten Listenplatz an. Die Stimmung im Saal war angespannt. Woody trat ans Rednerpult und hielt eine kurze Rede, in der er dafür plädierte die politische Erfahrung auch älterer Mitglieder gebührend zu wertschätzen und davor warnte die korrekten demokratischen Prozesse nicht ernst genug zu nehmen. Und dann kam der in Deutschland wohl unvermeidliche Satz: In diesem Land habe ja schon mal jemand auf den Treppen der Demokratie eine Diktatur errichtet - mit verheerenden Folgen für Europa und die ganze Welt. Im Saal herrschte betroffenes Schweigen. Woody adressierte zwar das leichte Unbehagen, das viele in Bezug auf den etwas schiefen Prozess der Kandidatenvorauswahl (siehe letztes Kapitel) hatten, allerdings war er meilenweit über das Ziel hinausgeschossen. Varoufakis wurde mit überwältigender Mehrheit von der Versammlung bestätigt, aber einige stimmten auch für Woody. Als die Listenplätze dann endgültig feststanden füllte sich der Saal mit Journalist*innen und die Kandidat*innen der ersten fünf Listenplätze hielten eine Pressekonferenz. Einen kleinen Eindruck der Stimmung vermittelt ein Video der Nachrichtenagentur Reuters.
Im Gründungsvorstand waren wir froh von der Last der Verantwortung befreit zu sein. Andere würden jetzt den Weg von DEMOKRATIE IN EUROPA bis zur Europawahl im Mai 2019 bestimmen.
Nach der Aufstellungsversammlung brach die Weihnachtszeit an und da wurde es beinahe vergessen, dass unser Wahlflügel ja bis Mitte Februar 2019 2.500 gültige Unterschriften sammeln mussten, um zur Europawahl zugelassen zu werden. Erst Anfang Januar trafen sich die einzelnen DSCs wieder und eine hektische Betriebsamkeit begann. Bei eisigen Temperaturen standen wir auf den Straßen rum, bei Fridays for Future-Demos, auf Flohmärkten, bei linken Veranstaltungen. Während der Gespräche mit den Menschen auf der Strasse war ich überrascht wie wenige mit dem Namen Yanis Varoufakis noch etwas anfangen konnten. Mindestens hier blieb der Sensationseffekt vollkommen aus, was mich auch etwas ernüchterte. Varoufakis war unser Schlachtschiff und wir alle waren kleine Bötchen die um es kreisten. Aber was, wenn unser Schlachtschiff nicht genug Feuerkraft besaß?