2.5. Konstruktionsfehler

4 years ago by Subliminal_Guy

Nach dem Abend mit Varoufakis verbreitet sich eine enorme Euphorie und Betriebsamkeit in der DiEM25-Blase. Es gab eine offene Kandidat*innenaufstellung, bei der sich jede(r) als Kandidat*in bewerben konnte. Dabei kamen Mitglieder der polnischen Partei Razem und der österreichischen Partei „Der Wandel“ und natürlich von DiB und DiEM25 zusammen. Der erste Platz bei der Mitgliederabstimmung ging an Yanis Varoufakis, der damit der Spitzenkandidat für die Europawahl wurde. Den zweiten Platz belegte die österreichische Ökonomin Daniela Platsch und den dritten DiEM25s Hausphilosoph Srećko Horvat. Viele auf der Liste kannte ich aber auch gar nicht. Ich war überrascht was für eine Anziehungskraft der Prozess entfaltete. Alles fieberte auf die Mitglieder- und Aufstellungsversammlung Ende November hin.
Ich denke es ist an der Zeit etwas genauer auf eine eklatante legalistische Schwachstelle in der Konstruktion von DiEM25s Wahlflügeln einzugehen, die unsere Arbeit negativ beeinflusste. Nach dem Parteiengesetz §9 Abschnitt 4 wählt der Parteitag „den Vorsitzenden des Gebietsverbandes, seine Stellvertreter und die übrigen Mitglieder des Vorstandes“. Auch Wahlbewerber werden nach §17 in geheimer Abstimmung gewählt. Ob eine Onlineabstimmung unter den losen Mitgliedern von DiEM25 - einer nach belgischem Recht gegründeten Non-Profit-Organisation mit Sitz in Brüssel - dafür geeignet war, war - vorsichtig gesagt - hart umstritten.
Das Behelfsverfahren funktionierte deshalb folgendermaßen: Für die Wahl des Vorstands von DEMOKRATIE IN EUROPA und der Kandidat*innen für das EU-Parlament wurde ein Stimmungsbild unter den DiEM25-Mitgliedern - in diesem speziellen Fall auch bei den DiB-Mitgliedern - ermittelt, das inoffiziell bindend für die Abstimmung auf der Mitgliederversammlung sein sollte und offiziell Vorschlagscharakter hatte.
Im Klartext: Vorstand und Kandidat*innen wurden nicht auf der Mitglieder- bzw. Aufstellungsversammlung gewählt, sondern schon vorher und die physische Versammlung segnete die All-Member-Votes nur legal ab. So kam es, dass es zeitgleich einen Gründungsvorstand (zerstritten, mit mir unter den Mitgliedern) und einen durch die Stimmen aller Mitglieder von DiEM25 und DiB gewählten Vorstand (designiert, mit teilweise neuen Mitgliedern) gab. So sollte gewährleistet sein, dass die Wahlflügel nicht „Just Another Party“ waren, sondern unter der demokratischen Kontrolle aller DiEM25-Mitglieder standen. Ob ein solch überkomplexes Verfahren für Nicht-Bürokratienerds überhaupt nachvollziehbar war, stand vorerst nicht zur Debatte. Es war aber in jedem Fall eine juristische Schwachstelle, die unseren Gegner*innen eine offene Flanke bot.
In der Zeit bis zur nächsten Mitgliederversammlung im November gab es nun also zwei Vorstände. Unser Gründungsvorstand war faktisch inaktiv und für inkompetent erklärt worden, weil wir die Mitgliederversammlung im September in den Sand gesetzt hatten. Der designierte Vorstand beschloss unterdessen schonmal eine neue Website unter der Adresse deineuropa.jetzt, was ich - der Administrator der alten Website - nur durch Zufall erfuhr. Dies nur als ein Beispiel für die mangelnde Koordination und den wilden Aktionismus an allen Fronten.
Mitte November 2018 hatten auch die Medien davon Wind bekommen, dass Varoufakis in Deutschland kandidieren wollte und die ersten Anfragen von größeren Zeitungen und Radiosendern, aber auch unabhängiger Polit-Podcasts wie Jung und Naiv und Dissens erreichten uns. Mit einem Mal schien nichts mehr unmöglich. Wir würden die Machenschaften des Europäischen Rats und der Brüsseler Bürokratie offenlegen und einen neuen politischen Weg für Europa aufzeigen. Eine politische Kultur erschaffen, in der nationale Identitäten eine untergeordnete Rolle spielten und ein Grieche, eine Österreicherin und ein Kroate in Deutschland kandidieren konnten. Es erschien mir als das perfekte pro-europäische Narrativ.
Zur selben Zeit nahm auch die mediale Berichterstattung über die Europawahl an Fahrt auf, die - zumindest bis 2014 - immer eine stiefmütterliche Behandlung erfuhr. Es zirkulierte das Zitat aus der dänischen Fernsehserie Borgen: „In Brüssel hört dich niemand schreien“. Die Zeiten in der dies der Wahrheit entsprach und das Europaparlament als politischer Elefantenfriedhof verschrien war, sollten endlich der Vergangenheit angehören. Gleichzeitig ging mir aber auch die Selbstgerechtigkeit auf die Nerven, mit der wir uns als "einzige progressive Kraft" und gleichsam letztes Schwert gegen das Böse präsentierten. Die dahingehenden Newsletter unsere Bewegung und die Tendenz sofort auf jeden progressiven Zug aufzuspringen gingen mir zunehmend auf die Nerven.
Was war den eigentlich unsere Unique Selling Proposition? Ein demokratisches Europa? Das hatten sich auch fast alle anderen Parteien auf die Fahne geschrieben. Ich erinnere mich noch wie ich mit meiner Tochter im Kinderwagen an einem CDU-Stand vorbeikam und ein Mann ihr eine Europafahne in die Hand drücken wollte. Ich lehnte dankend ab und der Mann sagte "Er verweigert ihr Europa!"
Ich drehte mich um und sagte, dass meine Tochter in Andalusien in Südspanien geboren sei und sie das Glück habe einen deutschen Vater zu haben, da ihr sonst mit einer 50%-Chance die Arbeitslosigkeit drohte. Er entgegnete, dass Deutschland nicht die Probleme der ganzen Welt lösen könne und dass VW ja nicht mit Absicht schlechtere Autos produzieren könne, nur damit es den anderen Staaten besser geht. Europe fuck yeah!
Aber zurück zum European Spring. Was war unser Mission Statement? Wie es ein Bekannter einmal treffend ausdrückte: „Wenn das SEK um 3 Uhr nachts deine Wohnung stürmt und dich mit vorgehaltener Waffe fragt wofür du stehst: Was ist deine Antwort?“ Die Antwort sah ich bei DEMOKRATIE IN EUROPA nicht.
Wir hatte ein tolles Programm, zu dem ich in großen Teilen immer noch stehe. Das European Spring-Programm. Crowdgesourced, europaweit abgestimmt, immer noch Work-in-Progress und mit interessanten Vorschlägen zu den Themen Migration, Technologische Souveränität, Ökologie, Arbeit, Diversität und Ökonomie. Es stand auch eine Menge halbgares und faktisch Falsches im Programm, aber das ließ sich bei den Umständen der Entstehung auch nicht verhindern. Nur: Was nützt ein Programm das niemand liest?
Aus Frankreich hörte ich, dass viele Mitglieder von Génération.s noch nie was vom European Spring gehört hatten. Auch war der Name generisch genug um von vielen verschiedenen Akteuren benutzt zu werden. So gab es in Spanien zum Beispiel den PODEMOS-nahen Primavera Andalus, zu dem ich halbherzig versuchte Kontakt aufzunehmen. (Mir schien es immer noch eine unverzeihliche verpasste Chance, dass wir eine so wichtige und erfolgreiche Partei wie PODEMOS nicht in unseren Reihen begrüßen konnten.) Stattdessen bewarb sich die winzige Splitterpartei Actúa beim European Spring. Der Vorstandsvorsitzende Jasper fragte mich damals ob ich die kenne und ob es Gründe gäbe sie nicht in den European Spring aufzunehmen. Ich fragte beim spanischen Nationalkollektiv an und man sagte mir, dass sie beschlossen hatten nichts dagegen zu haben. Erst später erfuhr ich, dass das eine zerknirschte Antwort war, die eigentlich heißen sollte: "Was soll denn der Mist!? Wozu die Linke in Europa noch mehr zersplittern, als sie ohnehin schon ist?" Spanische DiEM25er*innen, die auch Mitglieder bei PODEMOS waren traten reihenweise aus. Aber wen kümmerten schon ein paar enttäuschte Ex-Mitglieder? DiEM25 war europaweit aufgestellt und gekommen um zu bleiben.
Natürlich kann man nicht erwarten, das bei einem so ehrgeizigen politischen Projekt wie dem European Spring alles glatt läuft, aber man kann mindestens dafür sorgen, dass so ein Projekt sorgsam konstruiert wird. Die European Spring-Website und ein neues Nutzerforum wurden hastig programmiert. Das Nutzerforum wurde - wenn überhaupt - nur von DiEM25 und DiB-Mitgliedern benutzt. Beide Parteien hatten aber jeweils auch noch ihre eigenen Foren. So flog die meiste Zeit virtuelles Wüstengras durch das leere Forum.
Auch die Anzahl der Logos der teilnehmenden Parteien unten auf der Website war im Dienst eines größeren PR-Effekts etwas aufgeblasen worden. DiEM25, DiB und MUT firmierten auf dem Wahlzettel unter DEMOKRATIE IN EUROPA-DiEM25, so dass man die Zahl getrost auf 11 zusammenkürzen konnte. Démocratie-en-Europe, die französische Flügelpartei, war faktisch gleichbedeutend mit Génération.s und ein Klick auf das Logo des „European Spring Belgien“ führt zurück auf die Hauptseite. Damit wären wir bei 9 - teilweise politisch bedeutungslosen - Parteien aus 7 europäischen Ländern.
Ich habe das damals natürlich nicht so klar gesehen, da in unserer Aktionisten-Blase soviel Action war, dass für interne Kritik kaum Zeit und Raum blieb. Schmerzlich vermisst im European Spring wurden natürlich Die Linke, PODEMOS, La France insoumise, Bloco de Esquerda und andere stärkere linke und progressive Parteien.
Für eine größere Partei verbieten sich solche Parteienbündnis-Experimente wahrscheinlich schon aufgrund der zu erwartenden Problemen bei Kommunikation, Kandidat*innen-Wahl und organisatorischer Struktur. Transnationale Listen waren ja schon vor der Gründung unserer Wahlflügels für rechtswidrig erklärt worden, so dass es für unser transeuropäisches Parteienbündnis keine legale Grundlage gab. Es ist anzunehmen, das kleinere Parteien sich durch den European Spring einen höheren Bekanntheitsgrad versprochen haben, vor allem auch wegen der Beteiligung von Yanis Varoufakis.
Das European Spring Council traf sich im monatlichen Turnus, wobei sich gerade die von uns zunächst als großes Event geplante Veranstaltung in Frankfurt als ziemlicher Flop erwies, da größere Namen wie Benoit Hamon (Génération.s), Rasmus Nordqvist (Alternativet) oder auch Yanis Varoufakis nur Stellvertreter*innen schickten.
Die Erstellung des gemeinsamen Programms war auch suboptimal. Ich war bei keinem Council dabei und so blieb mir, auch als Vorstandsmitglied, nur der Weg über eine merkwürdig designte Eingabemaske auf der European Spring-Seite. Schlußendlich, so hieß es, würde es möglich sein im European Spring Forum über diese Einreichungen zu diskutieren und abzustimmen. Ich ging allerdings auf Nummer sicher und schrieb eine e-mail an den Koordinator mit der Bitte die Vorschläge der Technologie-Arbeitsgruppe einzupflegen und überprüfte die nächste Version des Programms daraufhin.
Den meisten Mitgliedern war die Existenz dieses Programms jedoch nicht bekannt, wie ich immer wieder in Gesprächen feststellte. Auch wurde in langen oft ergebnislosen Diskussionen das Verhältnis von DiEM25s Progressiver Agenda (die ja noch lange nicht fertig war) und dem European Spring Programm erörtert. Die lokalen Arbeitsgruppen in Berlin verloren an Teilnehmer*innen, da sich mangels Feedback Frustration einstellte. Wozu nächtelang über Migration, Transparenz, Struktur und European New Deal diskutieren, wenn diese Arbeit von nirgendwo aus koordiniert wurde und es auch unklar war in welche Agenda welcher Vorschlag am Ende eingehen würde?
Es ist sicherlich auch den Grassroots-Mitgliedern ein Aktionismus vorzuwerfen, der dazu führte, dass Menschen sich - ohne Abstimmung mit oder Nachfrage beim Coordinating Collective - an programmatische Arbeit machten, ohne genau zu wissen wer diese überhaupt brauchte.
Auf der anderen Seite war das zwölfköpfige CC (Coordinating Collective) auch komplett überfordert mit der Koordinationsarbeit. Ein Kollektiv, dass unter anderem aus Brian Eno und Noam Chomsky bestand, die sich nachweislich nicht an einer solchen Arbeit beteiligten. Auch Renata Avila, eine der Anwält*innen von Julian Assange, war die meiste Zeit in Mittel- oder Südamerika und nicht mit der politischen Basisarbeit in den europäischen Ländern vertraut. Blieben also neun Personen, unter ihnen der vielbeschäftigte Yanis Varoufakis. Acht bis neun Personen um 47 Länder zu koordinieren?
Das Hauptaugenmerk lag sicherlich auf Deutschland, in dem Varoufakis ja nun auch kandidieren wollte, und Griechenland, wo er an der Gründung der Partei MeRA25 beteiligt war. Und unser Vorstand konnte keine Entscheidung fällen ohne das CC um Rat zu fragen.
In diesem Zustand begaben wir uns Ende November in die Aufstellungsversammlung von DEMOKRATIE IN EUROPA.